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01.05.11 1. Mai–Rede in Aarau und Rheinfelden

1.Mai an einem Sonntag.

Und gerade, weil heute Sonntag ist, holt mich eine prägende Erinnerung ein. Vor 40 Jahren wäre ich als, zwar nicht streng, aber doch katholisch aufgewachsenes Mädchen in den Gottesdienst gegangen, wo der Pfarrer gepredigt hätte. Einzelne Geschichten, die er damals erzählte, sind mir noch in Erinnerung. Mir kommt unter anderem die Geschichte von Lazarus in den Sinn. Vielleicht erinnert Ihr Euch? Der Ausgehungerte, der unter dem Tisch der Reichen wartet, bis ein paar  Brosamen herunter fallen. Aber anstatt einiger Brosamen kommen die Hunde, die seine Wunden lecken. Als Kind hat diese Geschichte in mir etwas „Schauerhaftes“ ausgelöst.  Jetzt 40 Jahre später, unter anderen Vorzeichen und anderen Bedingungen schieben sich für mich Inhalte übereinander. Die Wunden, sie sind heute die Sorgen von vielen Frauen und Männern: Sorgen über das Haushaltsbudget, die Mieten, die Lebensmittelpreise, die Ausbildungskosten, den Krankenkassenbeitrag, …….

Die Reichen, sie heissen heute nicht mehr Lazarus, sie heissen Vasella, sie heissen Grübel oder sonst wie. Am Tisch der Reichen sitzen all die Verwaltungsräte, die laut Zeitungsberichterstattung vom 20. 4. wieder einen immensen Zuwachs an Bezügen zu verzeichnen haben.

Hier ein paar Zahlen:
  • Julius Bär: 2009  4,2 Mio 2010 5,1 Mio    = Zunahme von 21 %
  • Sonova: 2009 1,7 Mi 2010  3,3 Mio    =  Zunahme von 94 %
  • Novartis: 2009   6,2 Mio 2010  26,4 Mio  =  Zunahme von 323 %
Das Ergebnis einer Studie des schweizerischen Gewerkschaftsbundes, wir konnten es diese Woche lesen, hat es nochmals mit eindrücklichen Zahlen bestätigt: Zwischen 1997 und 2008 konnten die bestbezahlten 40'000 Personen der Schweiz ihre Reallöhne um 20% erhöhen, während die tiefen und mittleren Einkommen sich mit zwei bis vier Prozent zufrieden geben mussten. Die Zahl der Einkommensmillionäre hat sich mehr als verfünffacht. 
Trotz Wirtschaftswachstum soll also für die  Arbeitnehmenden nicht mehr abfallen?

Da ist die Mindestlohninitiative der Gewerkschaften mehr als nötig, die unter anderem einen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde und ein Mindestgehalt von 4000.- bei einer 40 - Stundenwoche fordert. Dass bestimmte Kreise diese Minimalforderungen als unberechtigt abkanzeln, war ja zu erwarten. Gut, seien wir nicht unverschämt und zeigen wir etwas Sympathie  für all die Konzernleitungsmitglieder: 2009 mussten sie nämlich reale Kürzungen hinnehmen, da ist der diesjährige Zuwachs doch nur ein Ausgleich!

Vielleicht ist die Forderung von uns nach einem Mindesteinkommen einfach auch zu einseitig. Sollten wir nicht eher die Konzernleitungsmitglieder in unsere Forderung mit einschliessen? Ich mache folgenden Vorschlag:

4000 Fr. als Mindesteinkommen für beide: Arbeitnehmende und Arbeitgeber. Der Betrag, den die Konzernleitungen (Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen) der 30 grössten Firmen bekommen, umfasst ja 1.028 Mia Franken.

4000 Fr. als Mindesteinkommen für beide: Arbeitnehmende und Arbeitgeber. Der Betrag, den die Konzernleitungen (Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen) der 30 grössten Firmen bekommen, umfasst ja 1.028 Mia Franken.

Ich habe es ausgerechnet und komme pro Verwaltungsrat auf 4000 Fr. pro 1,63 Sekunden.  Dass der Zeitfaktor nicht für alle derselbe ist, muss ja nicht an die grosse Glocke gehängt werden: 4000.- für die einen pro Monat, für die anderen  pro Tag oder pro Stunde, oder eben 4000.- für eine kleine Gruppe pro 1,63 Sekunden. So ist es halt!

Doch lassen wir den Sarkasmus für einen Augenblick bei Seite und wenden wir uns dem Begriff Mindesteinkommen zu. Mindest bezieht sich auf das, was wir zum Leben beanspruchen dürfen, auf das Mindeste, was uns zusteht und unter Würde zu verstehen wäre: 4000 Fr.!! In den Ohren einer bestimmten Schicht oder bestimmter Interessenvertreter tönt dieses Unvorstellbare tatsächlich als absolute Zumutung.

Die Wirtschaft geht nämlich davon aus, dass das erarbeitete Volksvermögen den Investoren gehört. Sie tragen das Risiko, heisst es, der Unternehmer soll entsprechend belohnt werden. Doch wer erarbeitet dieses Vermögen? Wer steht Tag für Tag im Büro, an der Werkbank, an der Strasse, an der Putzmaschine, am Spitalbett, in der Wäscherei, in den Fabriken, im Detailhandel, … und das unter zunehmend härteren Bedingungen? Wer erarbeitet diesen Mehrwert?

Die Umverteilung von unten nach oben findet nämlich kein Ende. Eine immense Verschiebung ist im Gange.
  1. werden die Geldbeträge von den Arbeitnehmenden v.a. des Mittelstandes in Richtung einer schmalen Oberschicht verschoben.
  2. findet auch eine Verschiebung vom Staat in die Privatindustrie statt. Die unsägliche Unternehmenssteuerreform ist dabei nur ein Beispiel. Die Milliardenausfälle für die Kantone werden all jene am eigenen Leib spüren, die auf eine öffentliche Hand angewiesen sind: Eltern mit Kindern, wirtschaftlich Schwache, Benutzerinnen und Benutzer des öffentlichen Verkehrs, Befürwortende einer nachhaltigen Energieversorgung, u.s.w., usf.

Zurück zu Lazarus. Bei ihm  heisst die Lösung: himmlische Gerechtigkeit.
Aber wollen wir so lange warten?

Wir sagen nein, wir müssen andere Ideen bereit haben, die im Jetzt wirksam werden.
Die Mindestlohn – Initiative für den Schutz fairer Löhne, gegen den massiven Druck auf die tiefen und mittleren Löhne, wovon gerade auch viele Frauen betroffen sind, verlangt unseren ganzen Einsatz. Mindestlohn führt zu einer ausgeglicheneren Einkommensverteilung und ist ein wichtiger Schritt in Richtung Lohngleichstellung.

Weiter setzen wir uns ein: 
  • Für die 1:12 – Initiative der Juso
  • Für sichere Arbeitsplätze und gute Renten
  • Für einen ausgleichenden, handlungs- und leistungsfähigen Staat, der Mittel investiert
    • in die Bildung
    • in die Integration
    • in den sozialen Wohnungsbau
    • in eine Gesundheitsversorgung für alle mit einer öffentlichen Krankenkasse
    • in die Energiewende, unter anderem mit der Cleantechinitiative, die neue Arbeitsplätze für den Mittelstand verlangt.
Brosamen, die bleiben uns im Hals stecken. Wir aber wollen eine Gesellschaft, die ausbeuterische Grundsätze überwindet und die ankämpft gegen Eigennutz und Gewinnmaximierung.

Wir wollen eine Gesellschaft, die auf zwei Säulen steht: Soziale Gerechtigkeit und Solidarität.   Der gesetzliche Mindestlohn ist ein wichtiger Teil davon.   

Ich wünsche Euch noch einen schönen Sonntag.